Hilfeschrei ungehört

Zehn Jahre leben mit Bulimie – eine 30-Jährige hat ihre Krankheit überwunden

„Pendeln zwischen Küche und Klo“. Das war lange Jahre ihr Alltag. Sibylle A. (Name geändert) war über zehn Jahre lang ess-brech-süchtig. Seit 18 Monaten lebt sie „symptomfrei“ in einer Kreisgemeinde. Über ihr Leben mit Bulimie und die Überwindung der Krankheit berichtet sie.

Wie ist Ihre Essstörung entstanden?
Schon mit zehn Jahren beschäftigte ich mich mit dem Thema Gewicht. Bei einer Untersuchung in der Grundschule wurde unter den Mädchen zum ersten Mal das Gewicht verglichen. Wenig später fühlte ich mich in meinem Körper sehr unwohl. Ich fühlte mich von meinem Spiegelbild verfolgt. Schaufenster und Spiegel wurden mir zum Horror. Ich hasste mich für mein Aussehen. Mit 14 Jahren habe ich im Schullandheim zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, dass ich mit Essen oder Nichtessen Aufmerksamkeit bekomme. Ich war krank, konnte nichts essen und stand plötzlich im Mittelpunkt der Mitschüler und Lehrer.

Weshalb war Ihnen diese Aufmerksamkeit so wichtig?
Ich war ein sehr schüchternes, angepasstes Kind. Meine Eltern waren selbständig, hatten wenig Zeit. Von mir wurde erwartet, das ich funktioniere, keine Bedürfnisse anmelde. Gleichzeitig hatte ich als Älteste viel Verantwortung, musste mich um die jüngeren Geschwister kümmern. Fremde Menschen haben mir Angst gemacht. Ich habe gelernt, dass ich mich richtig verhalten muß, nicht auffallen darf. In meiner Familie gab es keine liebevollen Blicke. Ich fühlte, dass ich immer etwas leisten muss.

Wie wurde aus dieser Suche nach Aufmerksamkeit eine Essstörung?
Durch einen Umzug wurde meine Schüchternheit und Unsicherheit noch verstärkt. Hinzu kam die Pubertät und die körperlichen Veränderungen. Ich mied andere Menschen, fühlte mich allein gelassen, hatte keinen Halt. Wahrscheinlich hoffte ich, durch andere diesen Halt zu bekommen. Darum war mir die Aufmerksamkeit so wichtig.

Kam die erwünschte Reaktion?
Nein, ich wurde nie auf meinen Zustand angesprochen. Deshalb habe ich immer weiter gemacht. Ich hätte mir gewünscht, dass sich jemand um mich kümmert, meinen Hilfeschrei hört. In der 9. Klasse hatte ich dann zum ersten Mal nach einer Phase des Hungerns eine Heißhungerattacke. Ich verfiel in Panik, weil das Joggen allein nichts mehr brachte. Aus Verzweiflung übergab ich mich. Das Erbrechen hatte damals noch keine Strategie. Bis zum Abitur konnte ich mit den Mahlzeiten jonglieren und Zuhause behaupten, ich hätte in der Mittagspause gegessen. Vom Gewicht war ich im Grenzbereich, ich war nie extrem untergewichtig.

Wie hat sich die Bulimie verstärkt?
Mit dem Auszug aus dem Elternhaus erhoffte ich mir die maximale Freiheit. Endlich konnte ich Essen oder Nichtessen wie ich wollte. Während des Studiums erbrach ich täglich zweimal. Damals brachte ich das Krankheitsbild Bulimie mit mir in Zusamenhang. Ich habe gefastet, Diäten ausprobiert, gab das Studium auf, begann eine Ausbildung. Ich verfiel in depressive Phasen. Sah teilweise vier, fünf Tage keinen Menschen, stand morgens nicht auf. Ich fühlte mich in meinem Körper gefangen. Ich wollte mich nicht ans Leben binden. Ich war zu feige zum Sterben und zum Leben.

Wie sah ihr Alltag aus?
Tagsüber hatte ich in meiner Ausbildung einen festen Rahmen. Ich aß den ganzen Tag nichts, kam mit einem Heißhunger nach Hause. Abends und am Wochenende pendelte ich zwischen Küche und Klo. Ich habe irgendetwas gegessen und danach sofort erbrochen, fünf bis sieben Mal hintereinander. Gegessen habe ich billige Lebensmittel, zur Not Mehl, Fett und Zucker zusammengerührt. Ich konnte mich auf nichts anderes mehr konzentrieren.

Welche Auswirkungen hatte die Bulimie auf ihr soziales Leben?
Mein Bewegungsradius wurde sehr eng. Ich konnte längere Zeit nur mit Freunden verbringen, die von meiner Krankheit wussten. Ich konnte nicht mit anderen in den Urlaub oder gemeinsam essen. Spontane Kontakte waren nicht möglich. Ich litt am Leben. Ich hatte zwar immer Freunde. Ein echter Kontakt war aber nicht möglich, die Sucht war immer dazwischen.

Gab es körperliche Auswirkungen?
Der Kreislauf spielte verrückt. Vom Unterzucker war ich oft sehr benebelt. Nachts fühlte ich mich, als ob ich einen Herzinfarkt hätte. Ich war nicht mehr leistungsfähig. Meine Ausbildung habe ich misserabel abgeschlossen.

Was waren die Beweggründe professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen?
Das Leben machte mir Angst. Ich war immer unzufrieden. Ich hatte das Gefühl, dass ich in die Klinik muss, sonst läuft mein restliches Leben schief. Allerdings war diese Klinik nicht die Richtige. Ich war überfordert mit der Gruppenarbeit. Nach den sieben Wochen fühlte ich mich wie ein kleines Kind, das in der fremden Welt ausgesetzt wird. Ich habe danach zehn Kilogramm zugenommen und aus Panik vor der Gewichtszunahme nachts gejoggt. Drei Monate habe ich ohne Erbrechen durchgehalten, danach war der Rückfall umso schlimmer.

Wie überwanden Sie die Krankheit?
Mit 28 Jahren machte ich eine stationäre Therapie. Dieses Mal war sie tiefenpsychologisch und christlich orientiert. Diese Therapie war bahnbrechend. Etwas in mir konnte heilen. Ich hatte das Gefühl, ich bin angenommen ohne, dass ich etwas leisten muss. Es war ein warmes Umfeld, die Therapie ging länger, ich hatte mehr Zeit, mich an neue Essstrukturen zu gewöhnen, mich selbst zu finden.

Wie sieht nun Ihr Alltag aus?
Seit eineinhalb Jahren lebe ich symptomfrei. Ich gehe in ambulante Therapie und in die Nachsorge. Ich mache Fortschritte. Ich habe nach wie vor Ängste im Umgang mit anderen Menschen und depressive Strudel. Diese werden aber weniger und ich weiß, dass ich auch zu dieser Welt gehöre. Ich habe gute Freunde, die mir Halt geben. Neben der Arbeit entdecke ich Hobbies. Zum ersten Mal merke ich, was mir Spaß macht. Ich entdecke mich selber, habe Träume und Wünsche. Ich hätte nie gedacht, so frei sein zu können.

© Schwäbische Post 08.05.2009, Anne Schührer