Martern für ein illusorisches Ziel
Riesige, schmerzdunkle Augen, ein verschlossener Mund, zu Strichfiguren reduzierte Körper. Die Bilder, die vom 10. bis zum 28. Juli im Foyer des Ostalbklinikums ausgestellt sind, zeugen beeindruckend von der verzweifelten Frage nach Wert, mit der Essgestörte den eigenen Körper verzerrt wahrnehmen, martern und zum alleinigen Lebensinhalt machen.
OSTALBKREIS „is(s) was?!“, fragt und provoziert die Ausstellung, die von rund 700 Schülern besucht werden soll. Sie zeigt vor allem Bilder von Patientinnen des Therapie-Centrums für Ess-Störungen München (TCE). Die Veranstalter wollen mithilfe der Kunst das Tabu Ess-Störungen brechen. Denn für einen Fortschritt in Prophylaxe und Prävention dieser zunehmenden und oft tödlichen Krankheiten seien mehr Sensibilität, Verständnis der Öffentlichkeit und Zusammenarbeit der Institutionen notwendig. In ihrem künstlerisch umrahmten Festvortrag informierte Dr. Monika Gerlinghoff vom TCE über die Störungen und die Therapie.
Die Referentin beschrieb, dass überwiegend junge Frauen an Ess-Störungen erkranken, und zwar häufiger an Magersucht (Anorexie) und Ess-Brechsucht (Bulimia Nervosa) als an Fettsucht. Sicherlich gebe es genetische Veranlagungen für Ess-Störungen – Auslöser seien jedoch individuelle, familiäre und gesellschaftliche Probleme ohne Lösungsaussicht. „Essgestörte fliehen vor dem Leben, vor der Gefahr des Misserfolgs“, erklärte Gerlinghoff. Gerade Magersüchtige schafften sich mit Essritualen, fanatischem Kalorienabbau und geschicktem Versteckspiel vor Familie und Bekannten eine eigene Welt, um zu herrschen – wenigstens über den eigenen Körper. Dabei lieferten sie sich der Herrschaft von Kalorientabelle und Waage aus, sehnsüchtig wartend auf das illusorische Ziel eines makellosen, das heißt gänzlich fettfreien Körpers. Denn nur vollendete Schönheit scheine den oft extrem leistungsorientierten Magersüchtigen ein Garant für Glück und Anerkennung. Sich selbst sähen sie als „Müllhaufen hinter einer repräsentativen Maske. Da sind gesundheitlicher Verfall, ja sogar der Tod, denkbar gleichgültig.“
Mit einem Drei-Phasen-Therapiemodell lernen Betroffene am TCE normales Essen, verbessern Selbstwertgefühl und Lebenskompetenz. Der erste Monat ist Motivationsphase, denn anfangs wollten viele Patientinnen ihre Sucht nicht ernstlich überwinden. Dann folgten vier Monate Tagesklinik und vier Monate ambulante Phase. Wichtig seien das gemeinsame Wohnen, die Entwicklung kreativer Ressourcen, ein Speiseplan.
Sehr schwierig und nicht selten erfolglos gestalte sich der Transfer in den Alltag. Deshalb sei man Stolz auf die vollständige Heilung bei immerhin rund 25 Prozent der Patientinnen.
Dem Ziel, Ess-Störungen zu bewältigen statt sie angeekelt zu verdrängen, dient im Ostalbkreis seit 2003 das Netzwerk für Essgestörte. Im Ostalb-Klinikum gab es dazu ein großes Symposium.
Schwäbische Post 13.7.2004 VON ANNI BUCHWEITZ