Angst und schlechtes Gewissen

Gmünder Patientinnen erzählen über ihre Essstörungen und die Behandlung im Ostalb-Netzwerk
Sie sind spindeldürr und finden sich fett. Sie können nicht aufhören zu essen – wenn sie Stress haben, traurig sind, sich einsam fühlen. Sie haben nach dem Essen ein schlechtes Gewissen, erbrechen, nehmen Abführmittel, fasten tagelang, um alles rückgängig zu machen. „Das ist das Schlimmste – das schlechte Gewissen und die Angst, entdeckt zu werden“, erzählt Paula*, die dem Arzt lange nicht glauben wollte, dass sie an Essstörungen leidet. Und heute froh ist, dass ihr im „Netzwerk Essstörungen Ostalbkreis (NEO)“ geholfen werden konnte.
Schwäbisch Gmünd. So wie jetzt, wenn sie von sich erzählt, ist Paula schon oft um den runden Tisch in der psychosozialen Beratungsstelle (PSB) der Caritas im Franziskaner gesessen. Dort hat sie mit Ruth Rothenberger das Erstgespräch geführt, hat der Diplomsozialarbeiterin erzählt von den schlimmen Monaten als die Rentenzeit begann. Als der Mann starb, die Mutter, der Bruder. Einsam, traurig, depressiv hat die 64-Jährige alle Kontakte zu ehemaligen Kollegen abgebrochen, hat ihren direkten Angehörigen heile Welt vorgespielt und heimlich gegessen, erbrochen, gegessen, erbrochen. „Wenn’s wieder draußen war, ging’s mir gut“, erinnert sie sich. Dass sie krank sein könnte, wollte sie nicht wahrhaben. Dass sie, die sich immer um die Suchtkranken im 2000 Mitarbeiter großen Betrieb gekümmert hat, an Ess-Brech-Sucht (Bulimie) leiden sollte, „das konnte und durfte nicht sein“.

Je nach Bedarf: mal stationär mal ambulant

Der beharrlichen Hausärztin hat es Paula zu verdanken, dass sie schließlich bei NEO landete. Dort von Ruth Rothenberger motiviert und auf eine Therapie vorbereitet wurde – in Gruppen- und Einzelsitzungen – und die AOK Ernährungsberaterin kennenlernte. Und schließlich bereit war für Phase zwei, die Therapie. „Bei mir war die Sucht schon so weit fortgeschritten, dass ein stationärer Aufenthalt in der Psychosomatischen Klinik des Ostalbklinikums in Aalen bei Chefarzt Dr. Askan Hendrischke und Dr. Martin von Wachter nötig war“, erzählt sie. Anderen Patienten reicht in dieser Phase die regelmäßige Psychotherapie in der Gruppe, die begleitet ist von Einzelgesprächen und ergänzt wird durch Kunst-, Körper- und Musiktherapie, durch Paar- und Familiengespräche. Margit* zum Beispiel kommt damit gut zurecht. Sie litt an Fressattacken (Binge-Eating-Störung), bekämpfte Wut, Trauer oder Langeweile mit Essen, belohnte sich mit Essen. Das Gefühl, satt zu sein, war ihr fremd. „Ich habe gegessen, bis der Bauch weh getan hat und mir schlecht war“, erzählt die 32-Jährige. Bei der Caritas in Gmünd erfährt sie von NEO. Hat dann extra die Krankenkasse gewechselt, um am Programm teilnehmen zu können, weil ihre Krankenversicherung die Kosten nicht übernehmen wollte. Zurzeit absolviert sie die Therapiephase, die zwischen sechs Monate und zwei Jahre dauern kann. Wenn es jetzt in ihr „brodelt“, nimmt die zweifache Mutter ihren Notfallkoffer, der gepackt ist mit Dingen, „die mir gut tun“. Und sie setzt sich „aktiv mit den Ursachen auseinander, die das schlechte Gefühl in ihr auslösen“. Fressgelüste spürt sie nur noch, wenn ganz viel Stress ist. Phasen der Trauer sind derzeit sogar begleitet von Appetitlosigkeit. Ein bekanntes Phänomen: Magersucht könne sich jederzeit in Richtung Bulimie entwickeln und umgekehrt, beschreibt die psychologische Psychotherapeutin Bettina Alles, die seit einem Jahr bei NEO dabei ist und Betroffene in der ambulanten Therapiephase begleitet. Meist seien Essstörungen auch mit Depressionen verbunden, die dann zurückgehen könnten, wenn die Störung erfolgreich therapiert wurde. Deutschlandweit sei NEO ein Vorreiterprogramm, lobt Alles das Konzept, das es derzeit nur im Ostalbkreis gebe. Besonders lobt sie die regelmäßigen Fallkonferenzen der Mediziner und Betreuer und den Qualitätszirkel, der Erfahrungen aus Gmünd und Aalen zusammenführt. „So eine integrierte Versorgung gibt es nirgends“, freut sie sich über das System, das, wann immer möglich, stationäre Aufhalte vermeide und diejenigen, die es ambulant nicht schaffen, schnell in stationäre Betreuung der Psychosomatischen Klinik vermittle. „Eine Essstörung ist eine schwere, chronisch verlaufende Erkrankung, die man ein Leben lang hat, wenn nicht früh genug der Ausstieg gelingt.“

Fakten zum Netzwerk

Seit März 2007 besteht der Integrierte Versorgungsvertrag zwischen dem Netzwerk Essstörungen Ostalbkreis und der AOK. Patienten anderer Kassen können bislang nur durch Einzelfallentscheidungen teilnehmen. Seit Juli 2008 ist NEO ein eingetragener Verein. Vorsitzender ist der Gmünder Mediziner Dr. Ullrich Brickwedde, Beisitzer und Schriftführer ist Ostalb-Suchtbeauftragter Berthold Weiß.

„Da steckt viel Herzblut drin“

Vor fünf Jahren haben die Ärzte der Psychosomatischen Klinik gemeinsam mit den AOK Geschäftsführern Till H. Klein und Josef Bühler das Netzwerk Essstörungen Ostalb gegründet. Anlass war die Erschütterung über den Tod einer AOK-Mitarbeiterin, die an Magersucht sterben musste, weil es keine ganzheitliche Behandlung gab und das Leiden nach jedem stationären Aufenthalt schlimmer wurde. „Diesem Drehtüreffekt wollte man mit einer professionellen Struktur entgegenwirken, die ein Vor- und eine Nachbehandlung einschließt“, erzählt der stellvertretende AOK-Geschäftsführer Michael Swoboda. Und der Erfolg gebe dem Konzept recht: Die Betroffenen haben eine Chance, dauerhaft gesund zu werden, erklärt er, stolz darauf, dass seit Vertragsbeginn (zwischen AOK und NEO) sich 99 Patienten ins Programm eingeschrieben haben. Die Behandlung im Netzwerk sei nur auf den ersten Blick teurer und rechne sich auf jeden Fall bei den Patienten, denen das Netzwerk nachhaltig helfen kann. Im Schnitt 4700 Euro pro beendeten Fall hat die AOK ausgegeben. Auf den Patienten bezogen variierten die Kosten aber stark, je nach Dauer der Behandlung, deren Therapiephase zwischen 1,5 und 2,5 Jahren liegen könne. „Wir sind von NEO überzeugt“, betont Swoboda und berichtet auch von Anfragen aus anderen AOK-Bezirken oder Bundesländern. Dort wächst das Interesse daran, wie das Netzwerk funktioniert, erklärt der AOK-Geschäftsführer stolz. Wobei er gleichzeitig betont, dass der Ostalberfolg auch deshalb so groß sei, weil „die Macher im Klinikum, bei der Caritas und der Kasse wirklich mit Herzblut hinter der Sache stehen.“ aks

Ganz individuell: NEO in Zahlen

Es läuft sehr gut“, findet Dr. Martin von Wachter, der an der Psychosomatischen Klinik des Ostalbklinikums hauptsächlich für NEO zuständig ist. Über 90 Patienten habe das Netzwerk seit der Gründung nachhaltig helfen können, kontinuierlich würden etwa 20 Personen in den unterschiedlichen Phasen betreut. In wissenschaftlichen Auswertungen der Universitäten Ulm, Heidelberg und Marburg hätten gute Effekte nachgewiesen werden können. Besonders positiv wirke sich aus, dass das Stufenmodell (Motivationsphase, Therapiephase, Nachsorgephase) individuell an die Bedürfnisse des Patienten angepasst werden kann und dass die Kasse akzeptiere, dass es einen Standardfall nicht geben könne. In vielen Fällen könne durch das ambulante Angebot und die Struktur im Netzwerk eine stationäre Behandlung vermieden werden: bei 52 Patienten, die im Jahr 2011 in unterschiedlichen Phasen betreut wurden, sei nur in drei Fällen eine Aufnahme in die Klinik notwendig gewesen. Darüber hinaus zitiert von Wachter eine Beurteilung durch Therapeuten, die sich auf 42 behandelte Patienten bezieht. Davon seien elf als geheilt eingestuft worden, 16 als stark verbessert, sechs als etwas verbessert und bei neun sei der Zustand noch unverändert. In keinem Fall sei aber eine Verschlechterung festgestellt worden. Die Patienten äußerten sich in den Abschlussuntersuchungen zufrieden mit der Behandlung und blieben im Behandlungserfolg stabil. Immer wieder werde allerdings die Therapie in der Gruppe am Anfang als enorm schwierig beschrieben und im späteren Verlauf der Behandlung als besonders hilfreich. Gerade hier entstünden dauerhafte Beziehungen, die die Heilung positiv beeinflussten. Einen Eindruck der stark individualisierten Behandlung gibt von Wachter mit einem Blick auf 2011. In diesem Jahr waren 52 AOK-Patienten im NEO. 29 davon waren aus dem Jahr 2010 übernommen, 23 kamen 2011 neu dazu (sechs in Schwäbisch Gmünd und sieben in Aalen). Von den 23 neuen Patienten wurden 19 in die Motivationsphase aufgenommen, drei direkt in Therapie. Eine Patientin brach die Behandlung direkt nach der Eingangsbeurteilung ab. Von den 23 Patientinnen hatten neun Magersucht (Anorexie), zehn litten an Ess-Brechsucht (Bulimie) und vier an Fressattacken (Binge-Eating). 22 Patienten beendeten 2011 ihre Behandlung, neun nach der Motivationsphase, fünf nach der Therapiephase, acht nach der Nachsorge. Vier Patientinnen haben die Behandlung abgebrochen. 32 Haus- und Fachärzte waren als Ärzte des Vertrauens in die Behandlung eingebunden. 2011 wurden außerdem drei Patientinnen anderer Kassen mit Einzelfallgenehmigung im NEO mitbehandelt. aks

© Anke Schwörer-Haag Schwäbische Post 17.08.2012