Aalenerin erzählt über ihre Magersucht

Jasmin Amend.

Aalenerin litt ihr halbes Leben unter der Krankheit – NEO half ihr dabei, gesund zu werden.

Aalen sz Tagelanges Hungern und exzessiver Sport, dann wieder völlig unkontrollierte Heißhungerattacken: Ihr halbes Leben steckte Katja Müller (Name von der Redaktion geändert) in diesem Kreislauf fest. Erst das Netzwerk Essstörungen Ostalbkreis (NEO) half ihr, daraus auszubrechen. Heute fühlt sich die Aalenerin gesund und ist eine selbstbewusste, selbstreflektierte Frau.
Vor kurzem hat Müller am ersten Ehemaligentreffen von NEO in Aalen teilgenommen. Etwa 17 ehemalige Patientinnen trafen sich bei der Psychosozialen Beratungsstelle für Suchtkranke und -gefährdete der Caritas, um sich auszutauschen, gegenseitig zu bestärken und zurückzublicken. Das Treffen habe sie sehr bewegt, sagt Müller. Es habe sie aber auch darin gestärkt, ihren eingeschlagenen Weg weiterzugehen.

 Dieses Foto entstand beim Ehemaligentreffen von NEO-Teilnehmerinnen, bei dem sich frühere Essgestörte austauschen konnten.

Spaß am Essen wiedergefunden

Heute, etwa fünf Jahre nach Abschluss ihrer Therapie, ist die Ende-30-Jährige immer noch schmal. „Ich werde nie ganz unbefangen in Bezug auf Essen sein“, gibt sie zu. Den Spaß am Essen und auch am Leben habe sie aber wiedergefunden – nach rund 15 Jahren Magersucht.

Körperkonrolle gab Stabilität

Ihr Einstieg in die Krankheit war laut Müller ganz klassisch und kam vor allem schleichend: Es begann mit einer Diät, dann kamen noch mehr Diäten. „Ich war schon immer ein athletischer, sportlicher Typ“, sagt sie. Aber so dünn wie manche ihrer Mitschülerinnen war sie eben nicht. Sie hatte zudem Probleme mit ihren Eltern, auch wenn sie nach außen hin in einem heilen Elternhaus aufwuchs. Auch in ihrer Beziehung lief es schlecht. „Ich habe Trost und Halt gesucht“, weiß Müller heute. Die vermeintliche Kontrolle über den eigenen Körper gab ihr ein Gefühl der Stabilität.

Belastungen und Beziehungsängste

Nicole Baumeister bestätigt dieses Muster. Sie ist niedergelassene Psychotherapeutin in Aalen und hat Müller bei ihrer Heilung unterstützt. „Magersüchtige haben oft familiäre Belastungen und dadurch Beziehungsängste“, erklärt sie. Statt ihre Probleme zu lösen, versuchten sie, diese durch ihre Krankheit zu betäuben.

Zeitweise nur noch 40 Kilo

Die Magersucht verlief bei Müller in Wellen; mal fühlte sie sich besser, mal schlechter. Auf die Extreme in ihrer Ernährung reagierte der Körper etwa mit Schwäche und Schweißausbrüchen. „Mein Stoffwechsel war komplett hinüber“, sagt Müller. Zwischenzeitlich bestimmte die Krankheit ihr ganzes Sein: „Man wacht nachts auf vor Hunger, man träumt vom Essen, man verbringt Stunden und Tage damit, sich Kochbücher anzuschauen“, sagt sie. Bei einer Körpergröße von 1,65 Meter habe sie zeitweise nur noch 40 Kilo gewogen. „Nicht so schlimm wie bei anderen“, fügt die Frau jedoch hinzu.

Hinzu kamen die schwindenden sozialen Bindungen: „Ich hatte einen Horror davor, mit anderen in den Urlaub oder essen zu gehen“, erinnert sich die Aalenerin. „Ich habe die anderen ständig anlügen müssen. Dadurch entsteht Distanz. Ich konnte niemanden richtig an mich ranlassen.“

Vorwürfe der Eltern

Richtig schlimm sei es während ihres Abiturs gewesen. „Meine Eltern haben mein Verhalten dann auf den Stress zurückgeführt“, erinnert sich Müller. Dabei sei die Magersucht ja irgendwie auch ein Versuch gewesen, Aufmerksamkeit zu bekommen. Als die Eltern schließlich Bescheid wussten, hätten sie heftig reagiert. Statt sie zu unterstützen, machten sie ihr Vorwürfe: „Sie haben gesagt: ,Was tust du uns an? Willst du uns erpressen?’“

Anfangs eine große Überwindung

Als Müller Anfang 30 und auf einem neuen Tiefpunkt war, empfahl ihr jemand das NEO-Netzwerk. „Zu Anfang habe ich mich sehr dagegen gewehrt“, sagt Müller. Die ersten Treffen seien eine große Überwindung gewesen. Doch die langsame Heranführung durch eine Kennenlern- und eine anschließende Intensivphase erleichterten ihr den Einstieg in die Therapie. Einzelsitzungen wechselten sich ab mit Gruppensitzungen, Kunsttherapie mit Ernährungsberatung.

Neuer Umgang mit anderen

„Die Therapie setzt an mehreren Punkten an“, beschreibt Hedi Wunderlich, Diplom-Sozialarbeiterin bei der Caritas Ostwürttemberg. Wunderlich ist für die Teilnehmerinnen meist die erste Ansprechpartnerin bei NEO. „Die Teilnehmerinnen lernen, regelmäßig zu essen, aber auch, einen Zugang zu sich selbst zu finden und sich zu beobachten.“ Psychotherapeutin Baumeister ergänzt: „Sie lernen auch einen neuen Umgang mit anderen; Beziehungsprobleme direkt anzugehen, Nähe, aber auch Abgrenzung zu suchen oder innere Spannungen auch mal auszuhalten.“

Der Anfang war hart für Müller: „Die Therapie hat mich aufgewühlt. Ich konnte mich zunächst selbst nicht aushalten.“ Noch nach all den Jahren weiß die Aalenerin aber: „NEO war ein neuer Anfang für mich.“ Sie wechselte schließlich den Job, reduzierte die Stundenzahl. „Ich habe heute deutlich mehr Stabilität“, ist Müllers Resümee. „Ich verbiete mir nichts. Ich esse mit Genuss, aber kontrolliert: also ein Stück Schokolade statt gleich zehn Tafeln hintereinander.“

Kein Sklave der Waage mehr

Das kürzliche Ehemaligentreffen mit den Mitstreiterinnen von NEO habe ihr gut getan. Sozialarbeiterin Wunderlich erklärt: „Wir haben das Treffen organisiert, damit die Teilnehmerinnen spüren, dass sie immer noch eine Anbindung haben.“ Die Stimmung sei entspannter, heiterer gewesen als bei den früheren Gruppensitzungen. „Ich habe eine größere Lebendigkeit bei den Frauen gespürt“, freut sich Wunderlich. Bei der Veranstaltung verabredete eine kleine Gruppe Frauen, sich im privaten Rahmen weiter zu treffen, Müller ist eine von ihnen.

Auf die Frage, wie viel sie denn heute wiege, antwortet Müller: „Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Ich war lange genug ein Sklave der Waage.“ Das Gewicht sei ihr mittlerweile egal. „Mit geht’s rein ums Gefühl; und ich fühle mich gut.“

Das verbirgt sich hinter dem Netzwerk NEO

Das Netzwerk Essstörungen Ost-albkreis (NEO) ist ein Zusammenschluss aus Ärzten, Psychologen und Sozialpädagogen, die in unterschiedlichen therapeutischen Settings mit essgestörten Patienten arbeiten. NEO ermöglicht Betroffenen einen niedrigschwelligen Zugang über Beratungsstellen, Haus- und Fachärzte.

Ziel ist es, bestehende Hilfsangebote für anorexie- und bulimieerkrankte Patientinnen besser aufeinander abzustimmen sowie vorhandene Lücken im Versorgungsangebot zu schließen. Neben ambulanten Beratungs- und Therapieangeboten im Einzel-, Gruppen- oder Familiensetting ist die (teil-)stationäre Psychotherapie Teil im gesamten Behandlungsablauf.

Dank eines Kooperationsvertrags können AOK-Versicherte das Angebot kostenlos wahrnehmen. Bis Ende 2014 wurden im Ostalbkreis (Aalen-Schwäbisch Gmünd) 160 Frauen in NEO behandelt.

NEO gibt es auch speziell für Jugendliche

Nach vielen Jahren Erfahrungen in der Behandlung von erwachsenen Patienten bietet NEO jetzt auch eine Behandlungsgruppe speziell für Jugendliche mit Essstörungen an. Die Behandlung startet in der ökumenischen Beratungsstelle in Aalen mit Einzelgesprächen und einer Motivationsgruppe. Danach können die Teilnehmer weitere Therapieangebote wahrnehmen wie Kunst-, Körper- oder Musiktherapie, Ernährungsberatung und Familiengespräche. Dieses Angebot richtet sich primär an AOK-Versicherte. Weitere Informationen gibt es unter www.mein-neo.de. Erste Ansprechpartnerinnen sind Martina Osiander, Erziehungs- und Familienberatungsstelle Landratsamt, Telefon 07361/503-1468, und Ramona Jasny, Ökumenische Beratungsstelle Aalen, Telefon 07361/59080.